Weltraumforschung wird zumeist mit der Entdeckung und Beschreibung neuer Galaxien und Planeten verbunden. Doch die speziellen Bedingungen im All bieten auch ein großes wissenschaftliches Potential für Grundlagenforschung, um das Leben der Menschen auf der Erde zu verbessern – unter anderem mit Fokus auf die Entwicklung neuer Wirkstoffe und Medikamente.
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Internationale Raumstation (ISS), da sie eine einzigartige Umgebung bietet: die Mikrogravitation. Unter diesen Bedingungen verhalten sich biologische Prozesse oft anders als auf der Erde – Zellen, Proteine und sogar ganze Gewebe entwickeln sich in der Schwerelosigkeit auf eine Weise, die neue pharmazeutische und medizinische Einsichten ermöglicht.
Was ist Mikrogravitation?
Mikrogravitation bezeichnet einen Zustand, in dem die Schwerkraft nahezu aufgehoben ist, wie etwa an Bord der Internationalen Raumstation (ISS). Technisch gesehen wirkt dort zwar noch eine geringe Gravitationskraft, doch da sich die Station im freien Fall um die Erde bewegt, entsteht für die Astronauten und Experimente ein Gefühl der Schwerelosigkeit. In diesem Zustand verhalten sich Flüssigkeiten, Zellen und Moleküle anders als auf der Erde, da Gewichtskräfte kaum eine Rolle spielen. Mikrogravitation ermöglicht so einzigartige wissenschaftliche Experimente, insbesondere in der Biologie, Medizin und Materialforschung.
Ein besonders relevanter Aspekt ist die Proteinkristallisation. Viele Medikamente basieren auf dem präzisen Verständnis von Eiweißmolekülen, die als Angriffspunkte für Wirkstoffe dienen. In der Schwerelosigkeit bilden sich diese Kristalle oft größer und regelmäßiger als unter Erdschwerkraft. Dadurch können sie mit höherer Auflösung untersucht werden, was wiederum die gezielte Entwicklung neuer Medikamente erleichtert. Pharmaunternehmen und Raumfahrtagenturen nutzen die ISS deshalb zunehmend als Labor für solche Strukturstudien.
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Zellbiologie. Auf der Raumstation werden Stammzellen kultiviert und deren Differenzierung untersucht. Die Mikrogravitation verändert die Art und Weise, wie sich Zellen entwickeln, vermehren und miteinander kommunizieren. Diese Veränderungen ähneln zum Teil Krankheitsprozessen auf der Erde, etwa bei Muskelabbau, Osteoporose oder einer geschwächten Immunabwehr. Forscher:innen können diese Phänomene im Zeitraffer beobachten, was nicht nur das Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen verbessert, sondern auch neue therapeutische Ansätze inspiriert.
Im All optimierte Krebstherapie: Palbociclib
Auf der ISS wurden Experimente zur Kristallisation eines Zielproteins namens CDK6 durchgeführt, das bei verschiedenen Krebsarten – insbesondere Brustkrebs – eine Rolle spielt. Die besseren Kristallstrukturen in Mikrogravitation halfen dabei, die Bindungsstellen des Proteins exakter zu analysieren. Diese Erkenntnisse trugen zur gezielteren Entwicklung von Hemmstoffen wie Palbociclib bei. Dieser Wirkstoff blockiert gezielt die Aktivität von CDK6 und kann so das unkontrollierte Zellwachstum bei bestimmten Brustkrebsarten effektiv eindämmen. Heute ist Palbociclib ein zugelassenes Medikament und wird weltweit in der personalisierten Krebstherapie eingesetzt – ein Beispiel dafür, wie Weltraumforschung direkt zu medizinischem Fortschritt auf der Erde beitragen kann.
Darüber hinaus wird auf der ISS auch die Wirkung und Verträglichkeit von Medikamenten untersucht. Da sich der menschliche Körper im All verändert, etwa durch Veränderungen in der Verteilung von Flüssigkeiten oder durch veränderte Genexpression, reagieren auch Medikamente teils anders. Diese Erkenntnisse können helfen, Wirkstoffe auf individuelle Bedingungen anzupassen – ein Schritt in Richtung personalisierter Medizin.
Medikamentenfabriken im All?
In den letzten Jahren wurde zunehmend darüber nachgedacht, nicht nur Forschung im All zu betreiben, sondern auch Produktionsstätten außerhalb der Erde zu errichten. Mehrere private und staatliche Initiativen arbeiten derzeit an der Entwicklung sogenannter Weltraumfabriken. Erste Unternehmen testen bereits Miniaturlabore und autonome Produktionssatelliten, die in der Schwerelosigkeit pharmazeutische Substanzen herstellen sollen. Die Hoffnung: Medikamente könnten im All mit höherer Reinheit, Effizienz oder Qualität produziert werden als auf der Erde. Erste Testmissionen dieser Firmen haben bereits stattgefunden, weitere sind geplant. Auch europäische Raumfahrtagenturen beschäftigen sich mit dem Thema, etwa durch die Entwicklung biotechnologischer Reaktoren, die in künftigen Raumstationen oder Orbitalfabriken eingesetzt werden könnten.
Langfristig könnten Patient:innen von dieser Forschung in mehrfacher Hinsicht profitieren: durch präzisere Diagnostik, neuartige Therapien, besser entwickelte Medikamente und ein vertieftes Verständnis für Krankheiten, die bisher schwer behandelbar sind. Die Schwerelosigkeit könnte damit – paradoxerweise – helfen, der Pharmazie und Medizin auf der Erde ganz neue Perspektiven zu eröffnen.