In der Ukraine haben Svitlana Morieieva und Tetiana Malciuc Apotheken geleitet – bis der Krieg sie zur Flucht aus ihren Heimatstädten zwang. In Österreich arbeiten sie nun beharrlich daran, wieder als Apothekerinnen tätig sein zu können.
„Die halbe Stadt ist zum Hauptbahnhof geströmt“
„Niemand hat gedacht, dass es tatsächlich zu einem Krieg mit Russland kommen würde. Es gab zwar Warnungen, aber wirklich geglaubt haben wir es erst, als wir nachts von den Bomben geweckt wurden“, erinnert sich Svitlana Morieieva an den Beginn der massiven russischen Angriffe auf ihre Geburts- und Heimatstadt Charkiw im Februar 2022. In der ostukrainischen Millionenstadt, die nur rund 30 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt liegt, brachen schnell Panik und chaotische Zustände aus. Russische Bodentruppen waren unmittelbar nach Beginn der Invasion bis in die Vororte Charkiws vorgerückt und lieferten sich dort schwere Gefechte mit den ukrainischen Verteidigern. Hunderttausende Zivilist:innen versuchten derweil verzweifelt aus der belagerten Stadt zu entkommen und sich in Sicherheit zu bringen. „Die halbe Stadt ist zum Hauptbahnhof geströmt, aber es gab bei weitem nicht genügend Züge. Ich habe Menschen gesehen, die ihre Kinder in Züge gereicht haben, weil für sie selber kein Platz war“, berichtet Morieieva.
Gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Freundin, die ihre beiden Hunde und ihre Katze in einem Sack mittransportierte, musste die damals 39-jährige Apothekerin lange am vollgedrängten Bahnhof ausharren, ehe sie in einen Zug Richtung Westen gelangten. „Wir haben 24 Stunden auf dem Boden neben der Toilette ohne Wasser und Lebensmittel verbracht, aber wir waren froh, dass wir überhaupt einen Platz bekommen hatten. Von Charkiw sind wir bis nach Lwiw gefahren – ohne Licht wegen möglicher Angriffe aus der Luft und über Umwege, weil bereits mehrere Eisenbahnbrücken zerstört waren“, blickt Morieieva zurück.
Flucht mit kleinem Rucksack und 700 Dollar.
Von Lwiw, dem früheren Lemberg, aus gelangten sie nach Czernowitz, wo sie für ein paar Tage bei Bekannten unterkommen konnten. Dort trafen sie auch Morieievas Schwester und deren Ehemann, die aus Kiew geflüchtet waren. Gemeinsam fuhren sie bis zur ukrainisch-rumänischen Grenze. Von dort wurden sie von dem Ehemann einer Freundin abgeholt, mit der Morieieva früher gemeinsam in einer medizinischen Fachschule studiert hatte. „Wir waren in Sicherheit, hatten aber fast alles zurücklassen müssen. Ich hatte nur einen kleinen Rucksack und 700 Dollar Bargeld für meine Mutter und mich dabei. Darum brauchte ich so schnell wie möglich einen Job“, erzählt Morieieva. Zunächst begann sie als Reinigungskraft zu arbeiten, später folgte eine Tätigkeit als Gartenhilfe.
„Die Apotheke war mein Leben“
„Das war für mich keine leichte Zeit. In der Ukraine habe ich 18 Jahre lang in der gleichen Apotheke gearbeitet, war Leiterin der Apotheke und habe der Inhaberin geholfen, weitere Apotheken zu gründen und aufzubauen. Die Apotheke war mein Leben“, blickt sie wehmütig zurück. Nach einigen Monaten in Österreich gelang es ihr mit Unterstützung der Apothekerkammer eine Stelle als Helferin in der Verblisterung einer Wiener Apotheke zu finden. „Es war ein schönes Gefühl wieder in der Apotheke zu sein. Der Anfang war schwierig, weil ich noch kaum Deutsch konnte und alle Medikamenten- und Wirkstoffbezeichnungen nur in kyrillischer Schriftweise kannte, aber ich habe dort jeden Tag etwas Neues gelernt und die Leute waren sehr nett und hilfsbereit.“
Nach einem privat bedingten Umzug von Wien in ein Dorf nahe Krems – im September 2024 heiratete sie einen dort lebenden Niederösterreicher – ist sie nun erneut auf der Suche nach einer vorerst nicht-apothekerlichen Stelle in einer Apotheke in Wohnortnähe. Parallel zur Jobsuche absolviert sie einen B2-Deutschkurs. Beides soll sie ihrem großen Ziel näherbringen: Möglichst bald alle nötigen Prüfungen zu schaffen und alle Formalien zu erledigen, um auch in Österreich als Apothekerin arbeiten zu dürften. Da die Ukraine kein EU-Land ist, gibt es bei der Anerkennung ihrer Berufsqualifikation noch die eine oder andere Hürde zu nehmen.
Fast alle Geschäfte schlossen, die Apotheke blieb offen
Dieses Vorhaben verfolgt auch Tetiana Malciuc, die gemeinsam mit ihrem damals zweijährigen Sohn Benedikt aus Schytomyr, einer 140 km westlich von Kiew gelegenen Stadt mit ehemals rund 270.000 Einwohner:innen, nach Wien geflohen ist. Wie Svitlana Morieieva wurde auch sie vom Kriegsausbruch im Februar 2022 überrascht. „In den Nachrichten wurde gesagt, dass nächste Woche der Krieg beginnen könnte, aber wir haben das nicht ernstgenommen. Als es dann soweit war, haben binnen weniger Tage fast alle Geschäfte und Läden geschlossen, weil viele Menschen sofort geflüchtet sind. Die Apotheke, in der ich gearbeitet habe, blieb aber offen, weil die Menschen ja weiterhin Medikamente brauchen. Die Kollegen, die dortgeblieben sind, haben sogar in der Apotheke geschlafen. Ich konnte aber wegen meines kleinen Sohnes nicht in der Ukraine bleiben“, erinnert sich die alleinerziehende Mutter. Da sie über kein eigenes Auto verfügte, war sie inmitten der Kriegspanik auf Mitfahrgelegenheiten und Busverbindungen angewiesen. „Insgesamt hat es eine Woche gedauert, bis wir über Moldawien, Rumänien und Ungarn nach Wien gekommen sind“, berichtet sie. In Wien durfte sie mit ihrem Kind ein Zimmer in der Wohnung einer Freundin beziehen.
Auch für Tetiana Malciuc war klar, dass sie in Wien möglichst bald eine Stelle braucht, um für sich und ihren Sohn sorgen zu können. Zunächst arbeitete sie zwei Jahre lang bei einer bekannten Schnellrestaurantkette, bei der sie schon während des Pharmaziestudiums ihr Geld verdient hatte. „Diese Arbeit hat mir geholfen Deutsch zu lernen, aber ich war schon sehr froh, als sich dann die Möglichkeit ergeben hat, wieder in einer Apotheke arbeiten zu können. Ich mochte es schon immer, Leuten zu helfen, wenn sie krank sind, und Rezepturen für sie herzustellen. Auch ist mir Chemie immer leichtgefallen“, erzählt Malciuc. Inzwischen ist sie in einer öffentlichen Apotheke im 19. Wiener Gemeindebezirk tätig und fühlt sich dort sehr wohl. „Die Kollegen sind sehr freundlich und helfen mir viel. Ich versuche mich dafür ein wenig zu revanchieren, indem ich für Kunden viel auf Ukrainisch und Russisch übersetze. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass in dieser Apotheke eine Ukrainerin arbeitet und es kommen viele Ukrainer zu uns.“
Sohn darf samstags mit in die Apotheke
Als alleinerziehende Mutter ist es für sie nicht immer ganz einfach, Arbeit, Kinderbetreuung und die Bemühungen um die Anerkennung ihrer Berufsqualifikation unter einen Hut zu bringen. Ihre Chefin in der Apotheke hat dafür Verständnis und unterstützt sie so gut es geht. „Am Samstag, wenn der Kindergarten geschlossen hat, darf ich meinen Sohn mit in die Apotheke nehmen. Er schaut mir dann aufmerksam zu, was ich im Labor mache und interessiert sich auch schon ein wenig für Chemie. Gut möglich, dass er auch einmal Apotheker werden wird“, erzählt sie.
Damit sie in Österreich als Apothekerin hinter der Tara stehen darf, muss Tetiana Malciuc noch eine Masterarbeit auf Deutsch verfassen, eine Prüfung in Gesetzeskunde ablegen und anschließend das Aspirantenjahr – die praktische Apothekerausbildung in Österreich – erfolgreich absolvieren. Wie Svitalana Morieieva hat sie in der Ukraine bereits selbstständig eine Apotheke geleitet und muss nun einige Schritte wiederholen. „Es fühlt sich ein bisschen komisch an, mit 34 Jahren eine Ausbildung zu beginnen, in der die anderen Teilnehmer zehn Jahre jünger sind und frisch von der Universität kommen. Aber das wird schon klappen“, hofft sie. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die sie in den zurückliegenden Jahren gemeistert hat, ist zu vermuten, dass sie auch diese Hürde nehmen wird.